Tuesday, August 8, 2017


Das US-Establishment gegen den Rest der Welt

Die amerikanische herrschende Klasse fühlt sich durch die internationalen von Präsident Trump gestarteten Veränderungen bedroht. Sie hat sich gerade zusammengeschlossen, um ihn unter die Kontrolle des Kongresses zu stellen. Sie hat in einem einstimmig beschlossenen Gesetz Sanktionen gegen Nordkorea, Iran und Russland verordnet und die Investitionen der Europäischen Union und China zunichte gemacht. Es gilt für sie, die Politik der Zusammenarbeit und Entwicklung des Präsidenten zu brechen und wieder zur Wolfowitz-Doktrin der Konfrontation und des Vasallentums zurückzukehren.

 | BEJRÚT (LIBANON)  
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Es ist ein beispielloser Skandal. Der Generalsekretär des Weißen Hauses, Reince Priebus, nahm an der Verschwörung Teil, um Präsident Trump zu destabilisieren und seine Amtsenthebung vorzubereiten. Er sorgte täglich für die Leaks, die das amerikanische politische Leben verdarben, besonders mit denjenigen über die angebliche Absprache zwischen dem Kreml und dem Trump-Team [1]. Durch dessen Entlassung ist Präsident Trump nun mit dem Establishment der Republikanischen Partei, von der Priebus der ehemalige Präsident ist, in Konflikt geraten.
Man bemerke nebenbei, dass keine einzige dieser Leaks über Arbeitspläne und Kontakte der Einen und der Anderen, einen Beweis für die Anschuldigungen erbrachten.
Die darauf folgende Umordnung des Trump-Teams ging ausschließlich auf Kosten der republikanischen Persönlichkeiten und zugunsten des Militärs, das gegen die Vormundschaft des tiefen Staates ist. Die bei der Konventions-Nominierung am 21. Juli 2016 von der republikanischen Partei mit Donald Trump verhandelte Allianz, um das Gesicht nicht zu verlieren, ist tot. Man befindet sich daher in der ursprünglichen Situation: auf der einen Seite der outsider-Präsident der ländlichen US-Mittelklasse, auf der anderen, die ganze von dem tiefen Staat unterstützte herrschende Klasse von Washington (d.h. von dem Teil der Verwaltung, die für die Kontinuität des Staates, d.h. über den politischen Wechsel hinaus, verantwortlich ist).
Offensichtlich wird diese Koalition durch das Vereinigte Königreich und Israel unterstützt.
Was passieren musste ist passiert: die Führungspersonen der Demokraten und Republikaner vereinbarten sich, um die Außenpolitik des Präsidenten Trump zu durchkreuzen und ihre eigenen kaiserlichen Privilegien zu bewahren.
Um dies zu tun, haben sie ein 70-seitenlanges Gesetz über Sanktionen gegen den Iran, gegen Nordkorea und gegen Russland offiziell im Kongress angenommen [2]. Dieser Text gebietet einseitig allen anderen Staaten der Welt, diese Handelsverbote zu respektieren. Diese Sanktionen gelten also gleichermaßen für die Europäische Union, China und für die offiziell angezielten Staaten.
Nur fünf Parlamentarier haben sich von dieser Koalition herausgehalten und gegen das Gesetz gestimmt: Die Abgeordneten Justin Amash, Tom Massie und Jimmy Duncan und die Senatoren Rand Paul und Bernie Sanders.
Die Bestimmungen dieses Gesetzes verbieten der Exekutive mehr oder weniger, diese Handelsverbote abzuschwächen, egal in welcher Form. Donald Trump ist theoretisch vollkommen ohnmächtig. Obwohl er laut der Verfassung ein Veto einlegen könnte, würde es dem Kongress genügen, für den gleichlautenden Text wieder zu stimmen, um es dem Präsidenten aufzuzwingen. Er wird es daher unterzeichnen, ohne die Kränkung durch den Kongress hinnehmen zu müssen. In den nächsten Tagen wird ein neuartiger Krieg beginnen.
Die politischen US-Parteien wollen die "Trump-Doktrin" vereiteln, laut der die Vereinigten Staaten sich schneller als die anderen entwickeln sollen, um die Spitzenposition zu verteidigen. Sie wollen im Gegenteil die "Wolfowitz-Doktrin" von 1992 wieder einführen, laut der Washington seinen Vorsprung gegenüber dem Rest der Welt halten muss, indem es die Entwicklung aller potenziellen Wettbewerber bremst [3].
Paul Wolfowitz ist ein Trotzkist, der sich in den Dienst des republikanischen Präsidenten Bush Vater gestellt hat, um gegen Russland zu kämpfen. Er wurde zehn Jahre später stellvertretender Verteidigungsminister unter Bush Sohn, und danach Präsident der Weltbank. Im vergangenen Jahr gab er seine Unterstützung der Demokratin Hillary Clinton. Im Jahr 1992 schrieb er, dass der gefährlichste Konkurrent der Vereinigten Staaten die Europäische Union wäre, und dass Washington sie politisch oder wirtschaftlich zerstören sollte.
Das Gesetz vernichtet alles, was Donald Trump in den vergangenen sechs Monaten gelungen ist, der Kampf gegen die Muslim-Bruderschaft und ihre Dschihadisten-Organisationen, die Vorbereitung der Unabhängigkeit von dem Donbass (Malorussland) und die Wiederherstellung der Seidenstraße.
Als erste Vergeltung forderte Russland von Washington, seine Mitarbeiterzahl der Botschaft in Moskau auf das Niveau der eigenen Botschaft in Washington, d.h. auf 455 Personen zu reduzieren, 755 Diplomaten werden ausgewiesen. Moskau will auf diese Weise darauf aufmerksam machen, dass falls es in der US-Politik mitgemischt hat, es aber nicht der Größe des US-Eingriffs in sein eigenes politisches Leben entspricht.
In diesem Zusammenhang hat der Verteidigung Minister, Sergei Shoigu, in der Duma am 27 Februar bekannt gegeben, dass die russischen Armeen nun auch in der Lage wären, "farbige Revolutionen" mit 28 Jahren Verspätung auf die Vereinigten Staaten zu organisieren.
Die Europäer erkennen jetzt mit Erstaunen, dass ihre Freunde in Washington (die Demokraten Obama und Clinton, die Republikaner McCain und McConnell) alle Hoffnung auf Wachstum in der Union brutal zunichtemachen. Der Schock ist sicherlich hart, aber sie haben noch immer nicht eingesehen, dass der angeblich "unberechenbare" Donald Trump eigentlich ihr bester Verbündeter ist. Ganz hart durch diese Wahl getroffen, die während ihrer Sommerferien stattfand, setzten sich die Europäer in den Standby-Modus.
Wenn keine unmittelbare Reaktion kommt, sind jene Unternehmen, die in die Lösung der Europäischen Kommission zur Energieversorgung in der Union investiert haben, ruiniert. Wintershall, E.ON Ruhrgas, N. V. Nederlandse Gasunie und Engie (Ex - GDF Suez) sind an der Verdoppelung der jetzt vom Kongress verbotenen Nord Stream-Pipeline, beteiligt. Sie verlieren nicht nur das Recht, bei US-Ausschreibungen mitzumachen, sondern auch ihr gesamtes Vermögen in den Vereinigten Staaten. Sie verlieren den Zugang zu den internationalen Banken und können ihre Aktivitäten außerhalb der Union nicht mehr weiter betreiben.
Bis jetzt hat nur die deutsche Regierung ihre Bestürzung kundgetan. Es ist unklar, ob sie in der Lage ist, ihre europäischen Partner zu überzeugen und die Union gegen ihren US-Lehensherrn zu mobilisieren. Nie ist noch eine solche Krise aufgetreten und daher gibt es auch keinen Hinweis, wie man auf diese Ereignisse antizipieren könnte. Es ist wahrscheinlich, dass einige Mitgliedstaaten der Union US-Interessen verteidigen werden, wie vom Kongress vorhergesehen, gegen ihre europäischen Partner.
Die Vereinigten Staaten, wie jeder Staat, können ihren Unternehmen verbieten, Handel mit ausländischen Staaten zu treiben und ausländischen Unternehmen verbieten, mit ihnen zu handeln. Aber gemäß der Charta der Vereinten Nationen können sie ihren Verbündeten und Partnern nicht ihre eigene Wahl vorschreiben. Es ist jedoch das, was die USA seit ihren Sanktionen gegen Kuba getan haben. Damals unter der Führung von Fidel Castro - der kein Kommunist war - hat die kubanische Revolutionsregierung eine Landreform ins Leben gerufen, die Washington missbilligte [4]. Die NATO-Mitgliedstaaten, die sich nichts aus dieser kleinen Insel in der Karibik machten, folgten also der Bewegung. Nach und nach hat der Westen, von selbst als normal angesehen, Staaten auszuhungern, die ihrem mächtigen Lehensherrn widerstanden. Jetzt geschieht es zum ersten Mal, dass die Europäische Union von einem System betroffen wird, an dessen Aufbau sie mitgeholfen hat.
Mehr denn je nimmt der Trump/Establishment-Konflikt eine kulturelle Form an. Er macht aus den Nachkommen der Einwanderer auf der Suche nach dem "American Dream" und den der Puritaner der Mayflower, Gegner [5].Woher, zum Beispiel, die Denunzierung von der internationalen Presse der vulgären Sprache des neuen Leiters der Kommunikation des Weißen Hauses, Anthony Scaramucci. Bisher begnügte sich Hollywood vollkommen mit den Manieren der New Yorker Geschäftsleute, aber plötzlich wird diese Kutscher-Sprache als unvereinbar mit der Ausübung der Macht präsentiert. Nur Präsident Richard Nixon drückte sich so aus. Er musste vom FBI gezwungen, zurücktreten, der den Watergate-Skandal gegen ihn organisiert hatte. Jedoch stimmt jeder damit ein, dass er ein großer Präsident war, der dem Vietnam-Krieg ein Ende gesetzt hat und das Gleichgewicht der Beziehungen zu China gegenüber der Sowjetunion schaffte. Es ist erstaunlich, wie das alte Europa das religiöse Argument der Puritaner aufgreift, um das Vokabular von Scaramucci zu beanstanden und seine politische Kompetenz im Trump-Team zu beurteilen; Präsident Trump sieht sich gezwungen ihn sofort zu entlassen.
Hinter dem, was nur als ein Kampf der Clans erscheinen mag, spielt sich die Zukunft der Welt ab. Entweder Konfrontations- und Herrschafts-Beziehungen, oder Zusammenarbeit und Entwicklung.

The US establishment against the rest of the world

The US ruling class feels threatened by the international changes prompted by President Trump. It has just united in order to force him under the guardianship of Congress. In a law which was voted almost unanimously, it has re-introduced sanctions against North Korea, Iran and Russia, and has unravelled the investments of the European Union and those of China. For them, it is essential to block the President’s policy of cooperation and development, and to return to the Wolfowitz doctrine of confrontation and suzerainety.

 | BEIRUT (LEBANON)  
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It is a scandal without precedent. The White House Secretary General, Reince Priebus, was part of the plot designed to destabilise President Trump and prepare for his destitution. He was the source of daily leaks which trouble the political life of the United States, in particular those concerning the alleged collusion between Trump’s team and the Kremlin [1]. By dismissing him, President Trump has entered into conflict with the establishment of the Republican party, of which Priebus is the ex-President.
Let’s note as we go that none of these leaks concerning the agendas and the contacts between those concerned have provided the slightest proof of the allegations made.
The reorganisation of the Trump team which followed was exclusively to the detriment of Republican personalities and to the benefit of the military personnel who are opposed to the guardianship of the deep state. The alliance which was concluded – making the best of a difficult situation - by the Republican party with Donald Trump during the inaugural convention on 21 July 2016, is now worthless. We therefore find ourselves faced with the equation with which we started – one one side, the outsider President of « the People’s America », and on the other, all of the Washington ruling class supported by the deep state (meaning that part of the administration charged with the continuity of the state over and above political alternances).
It is apparent that this coalition is supported by the United Kingdom and Israël.
So what had to happen happened – the Democrat and Republican leaders came to an agreement to thwart President Trump’s foreign policy and preserve their imperial advantages.
To do so, they adopted, in Congress, a 70-page law which officially set up sanctions against North Korea, Iran and Russia [2]. The text unilaterally promulgates that all other states in the world must respect these commercial restrictions. The sanctions therefore apply equally to the European Union and to China as to the states officially targeted.
Only five parlementarians dissociated themselves from this coalition and voted against the law - representatives Justin Amash, Tom Massie and Jimmy Duncan, and senators Rand Paul and Bernie Sanders.
The dispositions of this law more or less forbid the Executive to ease these commercial interdictions by any means whatsoever. Theoretically, therefore, Donald Trump is tied hands and feet. Of course, he can use his veto, but according to the Constitution, it would be enough for Congress to revote the text in the same terms in order to be able to impose it on the President. He will therefore sign it, thus avoiding the insult of being called to order by Congress. In the next few days, we shall see the start of a war unlike any other.
The political parties of the United States have every intention of destroying the « Trump doctrine », according to which the United States must evolve faster than other states in order to conserve world leadership. On the contrary, they intend to re-establish the « Wolfowitz doctrine » of 1992, according to which Washington must conserve its advance over the rest of the world by hindering the development of all potential competitors [3].
Paul Wolfowitz is a Trotskyist who worked for Republican President Bush the Elder to help with the war against Russia. He became Assistant Secretary of Defense ten years later, under Bush Junior, and then President of the World Bank. Last year, he gave his support to Democrat Hillary Clinton. In 1992, he wrote that the most dangerous competitor of the United States was the European Union, and that Washington should destroy it politically, even economically.
The law casts doubt on everything that Donald Trump has accomplished over the last six months, notably the fight against the Muslim Brotherhood and their jihadist organisations, the preparation of the independence of Donbass (Malorossiya), and the re-opening of the Silk Road.
As a first reprisal, Russia asked Washington to reduce the staff of its embassy in Moscow to the level of its own embassy in Washington, in other words, 455 people - requiring the expulsion of 755. In this way, Moscow intends to remind us that even if it had interfered in US politics, their interference has no comparison to the importance of US interference in Russia’s own political life.
While we are on this subject, it was only on 27 February that the Minister for Defence, Sergeï Choïgou, announced to the Douma that the Russian armies now have the capability to organise « colour revolutions », 28 years behind the United States.
The Europeans now realise with stupefaction that their friends in Washington (the Democrats Obama and Clinton, the Republicans McCain and McConnell) have just put a full stop to any hope of growth within the Union. This is certainly a nasty shock, and yet they still have not felt able to admit that the allegedly « unpredictable » Donald Trump is in reality their best ally. Completely stunned by the vote, which rained on their summer holidays, the Europeans have opted for the « on hold » position.
Unless they react immediately, the companies who have invested in the European Union’s solution for their energy supply are now ruined. Wintershall, E.ON Ruhrgas, N. V. Nederlandse Gasunie, and Engie (ex-GDF Suez) had all committed to the doubling of the gas pipeline North Stream, which is now forbidden by Congress. They not only forfeit the right to respond to US calls for tender, but they also lose all their assets in the United States. They are refused entry to international banks and are forbidden to pursue their activities outside the Union.
For the moment, only the German government has expressed its confusion. We do not know whether they will be able to convince their European partners and rouse the Union against its US suzerain. Such a crisis has never arisen before, and as a result, there exists no element of reference which could enable us to anticipate what is to come. It is probable that certain of the member states of the Union will defend US interests - those who think according to Congress, against their European partners.
The United States, like any state, can forbid their companies to do business with foreign states and foreign companies to do business with them. But according to the Charter of the United Nations, they may not impose their own choices in terms of allies and partners. But this is what they have been doing since their sanctions against Cuba. At that time, under the influence of Fidel Castro – who was not a Communist – the Cuban Revolutionary Government launched an agrarian reform which Washington chose to oppose [4]. The members of NATO, who couldn’t have cared less about that tiny Caribbean island, followed obediently along. Progressively, the West, full of itself, considered it normal to starve out any states which resisted their all-powerful suzerain. So here, for the first time, the European Union is affected by the system which it helped set up.
More than ever, the conflict between Trump and the Establishment takes on a cultural form. It opposes the descendants of the immigrants who came seeking the « American dream » to those of the Puritans of the Mayflower [5]. This, for example, is the root of the denunciation by the international Presse of the vulgar language used by the new man responsible for White House communications, Anthony Scaramucci. Until now Hollywood was perfectly at ease with the manners of New York businessmen, but suddenly this uncouth language is presented as incompatible with the exercise of Power. Only President Richard Nixon talked that way, and he was forced to resign by the FBI who organised the Watergate scandal to bring him down. Nonetheless, everyone now agrees that he was a great President, who put an end to the Vietnam War and rebalanced international relations with the Peoples’ Republic of China, faced with the USSR. It is surprising to see the Press of old Europe take up the religious, Puritan argument against the vocabulary of Scaramucci in order to judge the political competence of Donald Trump’s team; and for the President himself to fire him when he had only just been nominated.
But behind what may seem to be no more than a class struggle, the future of the world is at stake. Either relations steeped in confrontation and domination, or cooperation and development.

FDP-Chef Lindner sagt einmal etwas Vernünftiges und die Medien laufen Amok … es ist wirklich hoffnungslos

Veröffentlicht in: Außen- und Sicherheitspolitik, Kampagnen / Tarnworte / Neusprech, Medienkritik

Die Äußerungen zur Ostpolitik, die FDP-Chef Lindner an diesem Wochenende in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe kundtat, sind durchaus lesenswert. Lindner plädiert für pragmatische Lösungen, um den unseligen Konflikt mit Russland endlich zu begraben und eine neue europäische Friedensordnung zu entwerfen. Dabei gibt er nichts preis, was nicht ohnehin schon verloren wäre und empfiehlt politische Schritte, die abseits der Sanktionen im Kleinen schon längst gegangen werden. Warum also die ganze Aufregung? Und warum der hyperventilierende Ton einiger Kommentatoren, der kaum noch zu ertragen ist? Von Jens Berger.
Wir müssen raus aus der Sackgasse. […] Andererseits muss es Angebote geben, damit Putin ohne Gesichtsverlust seine Politik korrigieren kann. Die Sanktionen sollten nicht erst fallen können, wenn das Friedensabkommen von Minsk vollständig erfüllt ist. Auch positive Zwischenschritte müssen gewürdigt werden. Wir sollten versuchen, in das Verhältnis zu Russland wieder Bewegung zu bekommen. Sicherheit und Wohlstand in Europa hängen auch von den Beziehungen zu Moskau ab. Um ein Tabu auszusprechen: Ich befürchte, dass man die Krim zunächst als dauerhaftes Provisorium ansehen muss. […]
Dieser Wandel durch Annäherung von einem festen Fundament aus war neues Denken. Das brauchen wir auch heute, für mehr Dialog und mehr Kreativität im Umgang.
Christan Lindner im Interview mit der Funke-Mediengruppe
Was Lindner im Interview sagt, ist richtig und im besten „Merkel-Deutsch“ ja auch alternativlos. Natürlich muss die Ostpolitik die derzeitige Sackgasse verlassen. Welche Alternative gibt es denn? Stetig in der Sackgasse zu bleiben und darauf zu beharren, dass man im Recht sei? Es ist mehr als naiv anzunehmen, ein russischer Präsident könne oder wolle die Krim künftig wieder aus dem russischen Staatsgebiet ausgliedern. Westliche Politiker und Journalisten argumentieren an dieser Stelle gerne mit dem Völkerrecht und vergessen dabei jedoch dessen Grundlagen. So erweiterte der Völkerrechtspionier Georg Jellinek den Staatsbegriff seinerzeit mit dem Grundsatz der „normativen Kraft des Faktischen“ – vereinfacht gesagt, muss das Völkerrecht demnach auch die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Die Krim ist heute integraler Bestandteil der Russischen Föderation und daran wird sich auch nicht rütteln lassen – Sanktionen hin, Kriegsrhetorik her. Die ultima ratio, um die Krim Russland wieder zu entreißen, wäre militärische Gewalt und diese Option sollte jeder klar Denkende wohl ausschließen.
Streng genommen ist die Krim heute schon das, was Lindner als „Tabubruch“ verkauft – ein „dauerhaftes Provisorium“. Bei den Friedensverhandlungen des Minsker Prozesses wird die Krim doch schon heute de facto ausgeklammert. Man konzentriert sich auf die Ostukraine und das ist auch gut so, will man denn auch mal ein Jota vorankommen. Und dauerhafte Provisorien sind ja nun auch weiß Gott keine völkerrechtliche oder geschichtliche Novität. Das bekannteste Provisorium ist wohl die Inselrepublik „Taiwan“. China erhebt heute noch Ansprüche auf Taiwan und vertritt mit seiner „Ein-China-Politik“ eine relativ kompromisslose Linie, die unter anderem dazu führte, dass Taiwan die UN verlassen musste und nahezu alle Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zu Taiwan seit rund vier Jahrzehnten eingefroren haben. Ist das völkerrechtlich einwandfrei? Sicher nicht. Es ist die normative Kraft des Faktischen und auch Deutschland hält sich an die Regeln – so verweigerte die Bundesrepublik 2006 dem taiwanischen Außenminister ein Visum für eine private Deutschland-Reise mit dem Verweis auf die „Ein-China-Politik“. Niemand soll daher behaupten, der Krim-Konflikt sei eine unauflösbare Sackgasse. 
Die Liste der territorialen Streitigkeiten ist lang und auch innerhalb der EU gibt es zahlreiche ungeregelte Konflikte, wie zum Beispiel die völkerrechtlich immer noch nicht geklärte Deutsch-Niederländische Grenzfrage oder der Dauerstreit um Gibraltar. Konkurrierende Ansprüche Russlands und der Ukraine auf die Krim sind daher nichts wirklich Neues und es gibt keinen Grund, warum man diesen Konflikt nicht pragmatisch klären könnte.
Dennoch muss man Christian Lindner natürlich auch mal Lob zollen – das kommt ja auch nicht häufig vor. Sicherlich ist sein „Tabubruch“ wahlkampftaktisch motiviert, schließlich sind die Russland-Sanktionen vor allem beim Mittelstand extrem unpopulär; dennoch ist es wichtig, dass auch einmal abseits der Linkspartei ein Hauch von außenpolitischer Vernunft spürbar ist. Eigentlich hätte man diese Worte ja von Martin Schulz erwartet, der als SPD-Vorsitzender ja auch ein „Erbe“ der „Neuen Ostpolitik“ ist. Die deutsch-russischen Beziehungen sind ja geradezu eine Steilvorlage, bei der ein SPD-Kandidat eigentlich nur noch sinnbildlich den Fuß hinhalten muss … aber lassen wir das.

Screenshot: bild.de
Wahrlich erschreckend sind die Reaktionen der Medien auf Lindners Vorstoß. Eigentlich müsste der Versuch, sich aus der selbstverordneten Stockstarre zu befreien, doch zumindest von einem Teil der Kommentatoren begrüßt oder gar gewürdigt werden. Doch Fehlanzeige: Keine einzige namhafte Publikation lobt Lindners Diskussionsangebot. Stattdessen wirken viele Kommentatoren so, als stünde ihnen der Schaum vor Mund.
So phantasiert das BILD-Enfant-Terrible Paul Ronzheimer beispielsweise von Panzern, die Putin in die Ukraine geschickt hätte und ukrainischen Kindern, die vor seinen Augen durch russische Waffen getötet wurden. Für Ronzheimer ist die FDP „damit“ unwählbar – nun ja, damit können sicher alle Beteiligten leben. Als Stimme des Volkes lässt die BILD dann noch ein „FDP-Mitglied“ zu Worte kommen, das Lindners „Liebesdienerei gegenüber dem Kreml“ natürlich ablehnt und paradoxerweise im gesamten Artikel CDU-Wahlwerbung betreibt. Die Grünen seien „im Prinzip auch wählbar“, aber da sie „rechtzeitig vor der Wahl mit Volker und Marieluise Beck zwei ausgesprochene Falken einer menschenrechtsgeleiteten Außenpolitik entsorgt [hätten]“, bliebe halt nur noch Merkel, die ja auch „standhaft das Sanktionsregime gegen Russland verteidigt und aufrechterhält“. Schreibt so ein „typisches“ FDP-Mitglied? Nur dann, wenn es Richard Volkmann heißt und ansonsten Artikel auf dem transatlantischen Blog „Ruhrbarone“ oder den Salonkolumnisten verfasst. 
Der Tagesspiegel unkt etwas von „populistischen Abwegen“, SPIEGEL Online sieht im Interview ein „fahrlässiges Signal“, die WELT wirft Lindner vor, „mit Diktatoren zu kuscheln“ und schlussfolgert, dass sich bei der FDP der „Putin-Apologet und antiamerikanische Verschwörungstheoretiker“ Kubicki durchgesetzt und Lindner seinen Kurs aufgezwungen hätte. Besonders interessant ist auch der Kommentar von Berthold Kohler in der FAZ, der sich ironiefrei darüber echauffiert, man solle „doch nicht sagen, was alle denken!“. Nein, wo kämen wir da hin, das wäre ja schon fast Demokratie. Und so weiter und so fort. Es ist zum Heulen. Jeder noch so zarte progressive Diskussionsansatz wird hierzulande gnadenlos von den Springerstiefeln der transatlantischen Falken zermalmt.
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